Da ich nun schon wieder ein paar Wochen da bin, lohnt sich vielleicht eine kleine Zusammenfassung meiner Eingewöhnungszeit.
Als erstes mus ich sagen: es kribbelt. Es kribbelt hier und auch da. Zum Beispiel kribbelt es, weil ich nicht länger still herumsitzen kann. Obwohl ich erst seit etwa zwei Wochen wieder fest in Hildesheim bin, zieht mich ein Kribbeln zu Kurzausflügen. Darum werde ich im April, kurz bevor das Semester beginnt, wohl noch einmal kurz mein Fernwehakku auftanken gehen. In Wien oder Salzburg vielleicht. Mag jemand mitkommen?
Zweitens: es kribbelt, mich laut zu äußern, herauszurufen "Sehr geehrte Mitbürger, was soll denn das, ihr macht aus dem Land alter, aber freier Gemäuer ja ein neues Amerika!". So geht es mir immer und immer wieder, zum ersten Mal, als ich durch die bebacksteinte Einkaufsstraße in Rostock ging und an ihrem Ende sich ein bisher harmloses kleines Einkaufspassagechen sich plötzlich als genau das entpuppte, was ich die letzten Wochen überall in Kanada bestaunt habe: nämlich als ein Mehrgeschossiges Konsumparadies. Froh war ich nur, dass es trotz der Etagen und Größe noch Stil hatte, dass es sich also irgendwie unterschied von den Palästen der neuen Welt.
Aber weiter ging es als ich die ZEIT aufschlug und feststellen musste, dass es bereits vereinzeltes Alkoholverbot auf deutschen Straßen der Öffentlichkeit gibt. Dass wir den Amerikanern in Punkto Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden nachgezogen sind, finde ich ja meistens ganz in Ordnung, solange es auch abgeschlossene Bereiche für die Sucht gibt, in die man zur Not als Freund für ein paar Minuten oder Stunden mitgehen kann, weil man nicht alleine im Nichtraucherbereich sitzen mag, Bereiche, die aber Kinder zum Beispiel von dem gefährlichen Dunst fernhalten. Dass aber nun auch - in einer der linkesten Städte Deutschlands wohlgemerkt - begonnen wird, die Flasche Bier von der Straße zu verbannen, um Gewalttaten und ähnliches zu vermeiden, entzieht sich meiner Billigung. Natürlich wird niemand gerne von billigen Fusel ausdünstenden Heimatlosen angesprochen, aber noch lange nicht jeder, der sich gemütlich mit Freunden und Wein oder Bier auf Treppen und Bänke inmitten des idyllischen Steinstadtflairs niederlässt, wird Papierkörbe zerstören oder ältere Damen überfallen. Am besten wird vielleicht sein, man erlässt ein Gesetz, das verbietet, sich in der Öffentlichkeit überhaupt länger aufzuhalten als es für den Weg zur Arbeit oder zum Konsum nötig ist, ob mit oder ohne Flasche in der Hand.. dann würden auch gleich noch Bänke und Parkwiesen geschont, alles bliebe steril und klinisch rein. Großartig. Willkommen im deutschen Amerika.
Drittens kribbelt es, weil ich gespannt bin auf den Vergleich. Den Vergleich zwischen Ost und West, also Ost und West in Kanada. Anna ist nämlich bald in Vancouver, Franzi bereits in Montréal gelandet, und Mädels: ich will ALLES wissen! Die Probe aufs Exempel, wem sagt was mehr zu und sind meine Vermutungen, dass der Osten lockerer ist als der Westen, tatsächlich wahr, oder lag es nur an der Kleine der Stadtgröße, in der ich mich zumeist aufgehalten hatte, mit welchen Eindrücken kommt ihr zurück - ja, ich bin so wahnsinnig gespannt!
Viertens: Es kribbelt immer dann ganz besonders, wenn ich in ein Lebensmittelgeschäft meiner Wahl gehe. Oh, ich könnte vor Freude alles kaufen, was sich mir darbietet! Käse in Massen, Salami, Schinken, Pute und Huhn, Schokolade ohne Ende, Eis und überhaupt. Hey, und ne Flasche Wein kann man ja auch gleich vor Ort einpacken. Das ist so unglaublich! Ich muss jedesmal immernoch aufpassen, dass ich nicht den halben Laden leerkaufe, denn essen kann ich ja niemals all das alleine. Darum kämpfe ich mich jetzt vor allem erst einmal durchs deutsche Käseangebot. Der Wahnsinn, sage ich euch. Käse, Käse, Käse! No rubber anymore, yeah! - Nur die Bananen, die sind mir hier wirklich zu teuer..
Viertens kribbelt es, wenn ich daran denke, dass gerade dort unten vor der Uni mein Fahrrad parkt. Es kribbelt so sehr, dass ich nach Ostern eine kurze, etwa dreitägige Tour plane. Ich hatte ganz vergessen, wie frei der Mensch ohne Bus ist und wie gut es tut, sich den Wind um die kalten Nieren wehen zu lassen, während Regen die Haare durchnässt..
Das fünfte Kribbeln wärmt. Es taucht immer dann auf, wenn sich Freunde bei mir melden und sich freuen, dass ich zurück bin. Ich freue mich dann auch unglaublich und schlage sogleich ein Treffen vor, denn es ist ja so viel passiert und vor allem hat man sich lange nicht gesehen. Diese Freude hält auch dann noch an, wenn man sich inzwischen schon mehrfach gesehen hat und per Mail oder Skype Kontakt gehalten hatte, es führt sogar zu einem nach einer dieser Begegnungen für ein paar Stunden nicht abstellbarem Freudesgrinsen. Dieses Kribbeln, finde ich, tut wirklich gut.
Es gibt auch noch ein sechstes Kribbeln. Das aber stellte sich erst vor kurzem ein und war vorher von Realitätszweifeln überdeckt. Erst jetzt nämlich habe ich realisieren können, dass alles Geschehene tatsächlich wahr ist, kein Traum, keine Spinnerei, keine Erzählung. Ich war da, ich war in Kamloops, in Vancouver, im Regenwald, in Montréal, in Ottawa, in der Prärie. Irgendwie skurril, surreal, aber doch wirklich. Ich sehe mir all die Fotos auch nicht mehr in Trance an und erzähle dazu dies und das, was mir mein kleines Innenich dazu flüstert, sondern es sind jetzt Fotos einer realen Begebenheit, einer fassbaren. Statt unanwesender Beteiligung an einem Gespräch über ein anderes, fremdes Ich also Kribbeln und Ankommen im Hier, Jetzt und Damals. Ich weiß wieder, wo ich bin und finde es gerade gut, das noch vor dem Beginn meines neuen Semesters herausgefunden zu haben.
Das siebente Kribbeln (und damit soll es sich jetzt erst einmal ausgekribbelt haben) packt mich beim Blick auf mein Vorlesungsverzeichnis wie eine gewaltige Vorfreudelawine. Zwar habe ich das kulturwissenschaftliche Seminar- und Vorlesungsangebot zunächst gelesen wie eine Bedienungsanleitung in fremder Sprache, aber nachdem sich das Denkzentrum meines Gehirns schließlich nach mehrmonatiger Pause wieder eingeschaltet hatte, war ich überwältigt. Wie kreativ, wie selbstinitiativ, wie frei werde ich arbeiten können! Titel wie "Sinngeschichte des Schreibens", "Kreativität und Performanz", "Der Raum und der Klang der Literatur" oder Vorhaben wie kabarettistisches Bearbeiten von Shakespeares Sommernachtstraum und Sturm klingen doch schon jetzt viel spannender als "Canadian Literature from the Beginnings to 1950". Juhu, und meine Profs sind auch keine Scholastiker mehr, sondern Freidenker und Weltbeweger, und von einem eben dieser bin ich wahrscheinlich sogar bald studentische Hilfskraft. Mit Freuden stürze ich also in die Arbeit des kommenden Semesters, auch wenn ich schon jetzt weiß, dass ich mich wieder einmal völlig übernehmen werde, weil auch nebenbei möglicherweise wieder ein paar Bücher gesetzt werden wollen. Aber es kribbelt, und ich habe den Eindruck, dieses Zuviel an Aufgaben, dieses Zuwenig an Zeit, diese Frage, wie all das zu schaffen sein soll, die sich immer stellt, und dann unbemerkt löst - ich glaube, dieses Gefühl hat mir gefehlt.
Das also zu meinen ersten Eindrücken, zurück in der Heimat, zurück auf dem alten Kontinent. Und einen Ansporn will ich auch noch loswerden: Daniel, wo bleibt eigentlich dein Kulturschock-Beitrag? Ich bin doch neugierig, was dich so bewegt hat..